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Datum: 01.07.2023

Das Steinheimer Armenhaus

Sogenannte Armenhäuser gab es früher fast in jedem Dorf und jeder Stadt. In diesen Häusern lebten unverschuldet verarmte Einwohnerinnen und Einwohner, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Sie erhielten dort einen Wohnplatz, tägliche Verpflegung und Kleidung. Finanziert wurden Armenhäuser in der Regel durch Zuschüsse der Stadt, der Kirche und vor allem durch Stiftungen wohlhabender Bürger.

Armenhaus von Steinheim
Armenhaus von Steinheim

Eine Akte im Archiv (Karton 420) enthält derartige Dokumente zum städtischen Armenvermögen. Auch Steinheim besaß ein solches Armenhaus, das sich einst hinter dem Kirchhofe (heute Grandstraße) befand und in den alten Einwohnerlisten als Haus Nr. 276 gezählt wurde. Das Armenhaus wurde etwa 1730 erbaut, über die Inneneinrichtung ist nichts weiter bekannt. Die Stadtchronik erwähnt jedoch, daß die ersten zwei Räume im Jahre 1862 Dielen erhielten: „Die Stuben im Armenhaus waren bis hierin nicht gedielt gewesen, es wurden in diesem Jahr zwei (Räume) mit Dielen versehen.“ Im Juli 1916 genehmigte der Stadtrat einen Dachausbau. Die Baupläne und Kosten dazu sind noch erhalten. Erst am 31. August 1937 wurde das Haus von der Stadt an Privatpersonen verkauft.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten die Bewohner Steinheims hauptsächlich von der Landwirtschaft und vom Handwerk, und der Alltag war von harter Arbeit geprägt. Aufgrund wirtschaftlicher Probleme gerieten viele Menschen in Not. Besonders betroffen waren ledige junge Mütter, die in ihrer Not auch ihre neugeborenen Kinder aussetzen mußten, wie es Dokumente im Stadtarchiv schildern. Das Steinheimer Armenhaus bot vor allem älteren Menschen, Witwer, Witwen und unverheirateten Frauen eine Unterkunft unter der Voraussetzung, daß diese ortsansässig waren. Die originalen Einwohnerlisten von 1840 bis 1864 listen durchschnittlich zwischen 5 und 13 Bewohner im Alter von 6 (Kinder der Bedürftigen) bis 80 Jahren auf, darunter auch die blinde Witwe Reineke. Manche Bewohner verweilten hier nur kurzfristig, wohingegen andere länger blieben wie etwa die Witwe Tigges (geb. 1788), die über 25 Jahre im Armenhaus verbrachte.

Im Frühjahr 1822 trug sich im Armenhaus ein Ereignis zu, das Bürgermeister Vahle in einer besonderen Akte (Karton 452) festhielt. Am 23. März 1822 schrieb er folgenden Brief an den Landrat:

„Den 18tn des Monats zeigte mir Herr Pastor Köchling dahier an, daß sich im hiesigen Armenhause bei der seit längeren Jahren darin wohnenden Witwe Elisabeth Golüke, ihre Tochter Anna Maria aufhalte und im größten Verdacht stehe grob schwanger zu sein; dieser Verdacht vermehre sich noch dadurch, daß sie nach Aussagen der übrigen Bewohner des Armenhauses von ihrer Mutter so verheimlicht würde, daß letztere auch keinen Augenblick ihre Stube verlasse ohne dieselbe zu verschließen, sodann wären alle Ritzen und auch die kleinsten Löcher in der Tür genau mit Flachs verstopft und es dürfe keiner der übrigen Bewohner bei sie in die Stube kommen“.

Zum Hintergrund dieser Anzeige muß man wissen, daß aufgrund einer Verordnung der preußischen Regierung gegen Kindesmord sowie Verheimlichung der Schwangerschaft und Niederkunft jedermann, seien es Eltern, Hebammen, Dienstherrschaften oder eben auch die Obrigkeit einer Stadt, eine ihnen bekannte uneheliche Schwangerschaft zu melden hätten, damit man der Schwangeren beistehen könne. Diese Verordnung mußte ab 1817 einmal im Jahr vor der versammelten Gemeinde verlesen werden. Ein Exemplar dieser Verordnung ist auch im Stadtarchiv erhalten. Bürgermeister Vahle mußte also dringend dem Gerücht aus dem Armenhaus, das sich inzwischen wohl in der ganzen Stadt verbreitet hatte, nachgehen.

Als er mit Gendarm Grusky und dem Stadtdiener Adam Reedeker die besagte Stube im Armenhaus inspizierte, war Anna Maria jedoch verschwunden, um eine neue Stelle in Wöbbel anzutreten. Auf Veranlassung des Bürgermeisters wurden jedoch Mutter und Tochter schließlich verhaftet. Zum Schluß führt der Bürgermeister an: „Schließlich bemerke ich noch, daß nach den Äußerungen der übrigen Bewohnern des Armenhauses es gewiß sein, daß Inquisitin schwanger seie oder gewesen sein. Nachdem nun Herr Grusky Inquisitin arretiert und gestern abend hier gestellt hat so habe ich, da sich dieselbe allen Ansehen nach nicht mehr schwanger befand und daher zu vermuten ist, daß allenfalls das Kind abseite geschafft sei, dieselbe nebst ihrer Mutter ans Land- und Stadtgericht zu weiterer Untersuchung abgeführt. Indem ich mich durch diese Anzeige meiner Pflicht entledige, habe ich die Ehre ... Der Bürgermeister Vahle“.

In besagter Akte findet sich auch der Entlassungsschein der Elisabeth Golüke aus dem Kreisgefängnis in Paderborn, in das sie wegen Verheimlichung der Schwangerschaft ihrer Tochter für kurze Zeit (bis 10. 4.1822) eingewiesen war. Noch einmal hören wir von Anna Maria Golüke: Am 3. Februar 1834 stirbt sie, immer noch unverheiratet, im Alter von 40 Jahren an Nervenfieber (Typhus), eine hochansteckende Krankheit, die vor allem Arme und in unhygienischen Verhältnissen lebende Menschen traf. So traurig uns der Lebensweg von Anna Maria auch anmutet, so wirft er dennoch ein bezeichnendes Schlaglicht auf die sozialen Verhältnisse vor 200 Jahren.