Das Steinheimer Ärztewesen um 1850
Gesundheit gehört zum wichtigsten Gut eines Menschen und deshalb sind Ärzte – heute wie damals – um das Wohl von Kranken bemüht. Im 19. Jahrhundert gab es neben studierten Ärzten auch sogenannte Wundärzte, auch chirurgicus genannt, die beim Militär oder in größeren Orten anzutreffen waren. Manche zogen auch als Wanderärzte durch das Land. Bestimmte Verrichtungen durften sie aber nur unter Aufsicht oder nach Anweisung eines akademisch ausgebildeten Arztes ausüben, denn in der Regel befaßten sich diese nicht mit den als niedrig angesehenen chirurgischen Tätigkeiten.
Im Stadtarchiv befindet sich ein aufschlußreicher Briefwechsel, der die Situation eines Steinheimer Arztes um 1840 näher beleuchtet. Die Dokumente machen sehr deutlich, daß selbst medizinisch gut ausgebildete Ärzte in jener Zeit nicht wohlhabend waren, wie man meinen sollte, sondern dass sie ihren Lebensunterhalt hart verdienen und insbesondere gegen jegliche Konkurrenz vor Ort verteidigen mußten.
Folgendes geschah im Jahre 1842: Ein Eskadron-Chirurg namens Koch wollte sich nach seiner aktiven Soldatenzeit in Steinheim niederlassen und richtete deshalb ein Gesuch an den Steinheimer Magistrat. Eine Eskadron war eine etwa 150 Reiter zählende taktische Einheit der Kavallerie im preußischen Heer. Jede Eskadron beschäftigte auch einen Chirurgicus (Wundarzt), der zwar kein akademisch ausgebildeter Arzt war, jedoch an Ort und Stelle erste Hilfe leisten konnte. Besagter Koch hatte bereits die Erlaubnis sich in Nieheim niederzulassen, um dort nach ärztlicher Anweisung kleinere chirurgische Hilfsleistungen auszuüben. Allerdings waren ihm dort die Wohnungsmieten zu hoch gewesen, woraufhin er nach Steinheim übersiedeln wollte. Dafür benötigte er jedoch die Genehmigung des Steinheimer Magistrats.
Als der hier ansässige Steinheimer Arzt Dr. med. Zörnig (29 Jahre) davon erfuhr, leistete er heftigen Widerstand. Dr. Zörnig bewohnte zusammen mit seiner Ehefrau Aline, geborene Windhorst, das Haus seines Schwiegervaters, des königlichen Zollrendants Friedrich Windhorst, in der Marktstraße 49. Dr. Zörnig schrieb deshalb am 13. Mai 1842 an den Steinheimer Magistrat: „Da ich in Erfahrung gebracht habe, daß ein gewißer Koch sich hier niedergelassen habe, um sich mit niederer Chirurgie zu beschäftigen, welche derselbe mit Erlaubniß der landräthlichen Behörde auf Anordnung eines Arztes auszuüben vorgibt, so sehe ich mich zu der Erklärung genötigt, daß ich nicht willens bin ihm Beschäftigung zu geben, da ich schon wegen meiner Stellung gezwungen bin fast jeden Gegenstand der niederen Chirurgie zu betreiben ... Ich muß daher darauf antragen dem Koch die Niederlassung hier in Steinheim nicht zu gestatten“. Koch wurde deshalb am 24. Mai 1842 vor den Magistrat geladen, um dazu Stellung zu beziehen. Bei seiner Vernehmung erzählte Koch seine Lebensgeschichte und gab an, dass er von Dr. Zörnig eine mündliche Zusage erhalten hätte, in Steinheim kleine chirurgische Tätigkeiten vornehmen zu dürfen. Dann kam jedoch der eigentliche Grund für die Umsiedlung von Nieheim nach Steinheim zum Vorschein: Koch versprach sich in Steinheim und in den umliegenden lippischen Dörfern einen besseren Verdienst! Letztendlich wurde sein Niederlassungsgesuch vom Magistrat der Stadt Steinheim aber abgelehnt.
Für Ärzte gab es jedoch in diesen Zeiten noch bedrohlichere Gefahren: Potentiell tödliche Krankheiten, für die noch keine Impfung vorhanden war, wie etwa das Ner-venfieber (Typhus). In Steinheim waren während des Ausbruchs dieser hochansteckenden Krankheit (1831 bis 1835) mehr als 80 Einwohner gestorben. Und dieses Schicksal traf leider auch den „jungen Steinheimer Arzt Dr. Wilhelm Zörnig, der am 13. August 1849 im Alter von 36 Jahren verstarb, nachdem er sich bei der Behandlung des an Nervenfieber erkrankten Kaplans Otto das Nervenfieber zugezogen hatte“ (Stadtchronik 1800 bis 1884).
Weniger bekannt ist, daß in Steinheim auch ein Tierarzt praktizierte. „Nach langer Abwesenheit eines Thierarztes siedelte sich in hiesiger Stadt im Jahre 1846 der Kreisthierarzt Thomas Krekeler an“, so berichtet die Stadtchronik. Im Mittelalter widmeten sich die Tierärzte vor allen den wertvollen Tierarten der oberen Stände, während die Nutztiere eher durch die sie betreuenden Hirten nach tradierten Methoden behandelt wurden. Die Ausbildung der Tierärzte war seit 1818 in vier Klassen eingeteilt: 1. die zukünftigen Departement-Tierärzte, 2. die approbierten Tierärzte, die als Kreistierärzte eingesetzt wurden, 3. die Tierärzte mit Schulexamen, die nur eine bedingte Erlaubnis zur Ausübung eines Praxis erhielt sowie 4. geprüfte Schmiede, die als tierärztliche Gehilfen Verwendung finden sollten.
In Steinheim gab es in dieser Zeit nach einer Zählung der Nutztiere: 169 Pferde, 27 Füllen, 194 Rinder, 415 Kühe, 286 Ziegen, 595 Schweine und 931 Schafe. Besagter Tierarzt Krekeler mußte sich aber offensichtlich ein zusätzliches Einkommen verschaffen, denn 1863 pachtete er für sechs Jahre von der Stadt eine Ziegelei zum Brennen von Mauersteinen, Dachziegeln und Ofenrohren zu einem Pachtzins von 300 Reichstalern. Aber schon ein Jahr später weigerte sich Krekeler die Pacht zu bezahlen, da die Stadt ihm die Ziegelei in einem ausgesprochen schadhaften Zustand übergeben und er zahlreiche Ausbesserungen auf eigene Kosten hätte vornehmen müssen. Sein Rechtsbeistand war der Rechtsanwalt und Notar Franz Joseph Claes, der sich als erster Anwalt überhaupt 1860 in Steinheim angesiedelt hatte. Nach einem langwierigen Prozeß, der im Archiv in einer umfangreichen Akte vorliegt, entschied das Gericht 1865, dass Krekeler 95 Reichstaler und 5 Silbergroschen nebst 5% Zinsen an die Stadt zu zahlen hätte; die Kosten des Verfahrens wurden geteilt.