Armenfürsorge in Steinheim vor hundert Jahren
Die Vorweihnachtszeit ist heutzutage vor allem eine Zeit des Konsums: Die Zeiten sind vorbei, in denen Adventskalender nur mit Schokolade gefüllt werden, da es gerne auch etwas exklusiver sein darf, und für das Weihnachtsfest selbst planen die Deutschen nach Umfragen 2024 im Durchschnitt knapp 300 Euro für Geschenke ein.
Vor etwa 100 Jahren ging es da wesentlich bescheidener zu. Denn es waren nach dem verlorenen ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) finanziell harte Zeiten, insbesondere für die ärmere Bevölkerung Steinheims, die in den turbulenten und trostlosen Zeiten der Inflation bis hin zur Hyperinflation im Jahre 1923 unaufhörlich anwuchs.
Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not prägte das Alltagleben in der Stadt, wie es die umfangreiche Akte „Acta betreffend die Unterstützung und Verpflegung der Armen 1914-1926“ aus dem Stadtarchiv eindrucksvoll zeigt. Anders als heute, wo Bestattungsformen- und -rituale allmählich aufgeweicht werden, besaß die Bestattungskultur damals einen hohen gesellschaftlichen Wert. Doch die Preise für Beerdigungen stiegen fortgesetzt an. Bereits am 25. November 1922 schrieb der Vorsitzende des Westfälischen Städtetages und Oberbürgermeister von Bochum Graff: „In verschiedenen Städten mehren sich die Begräbnisschwierigkeiten, weil große Teile der Bevölkerung die sehr erheblichen Beerdigungskosten nicht mehr tragen können“. Er wolle wissen, wie es damit in der Stadt Steinheim bestellt sei. Am 11. Dezember 1922 schrieb der Steinheimer Bürgermeister zurück: „Auf die Anfrage vom 25. des Monats teile ich ergebenst mit, daß die Stadt den Einwohnern bei Todesfällen auf Antrag Bretter zu mäßigem Preise überläßt, aus denen sie sich einen Sarg fertigen lassen können. Das Holz kommt aus dem städtischen Walde“.
Doch da viele Familien selbst die reduzierten Preise bald nicht mehr zahlen konnten, sah sich die Stadt gezwungen, bereits drei Monate später am 6.3.1923 folgenden Beschluß zu fassen: „Unter Anerkennung der Dringlichkeit wurde beschlossen, den von Sterbefällen betroffenen Familien das Holz für den Sarg auf Antrag unentgeltlich zu geben“. Und in der Tat waren es viele Bürger, welche die Kosten für einen Sarg nicht mehr tragen konnten und bei der Stadt Anträge auf Kostenübernahme stellten. So etwa der Maurer Joseph Jürgens, der in der Wallstraße 314 wohnte: „Mein Sohn Anton ist gestern Nachmittag im hiesigen Krankenhause gestorben. Mit der Herstellung des Sarges habe ich den Kunsttischlermeister Franz Finkeldey hier beauftragt und bitte demselbst Tannenholz aus dem hiesigen Stadtwalde zu dem vorgenannten Zweck überweisen zu wollen“. Oder die Näherin Marie Schmitz wohnhaft in der Rochusstraße 101: „Meine Mutter, die Witwe Maria Schmitz, von hier, ist am 20. des Monats verstorben. Mit der Herstellung des Sarges habe ich den Tischler Anton Nöltker hier beauftragt. Ich bitte daher dem Nöltker für diesen Zweck Tannenholz aus dem hiesigen Stadtwalde überweisen zu wollen“.
Desgleichen häuften sich auch die Anträge auf Ausstellung eines Armutszeugnisses zwecks Nachsuchung des Armenrechts zusehends. Zeugnisse für die bedrückende Not jener Zeit. Immerhin wurden die armen Steinheimer Familien von der Stadt zu Weihnachten und zu Neujahr jeweils mit einem Laib Brot beschenkt. Die langen Listen enthalten die Hausnummern, die Namen der Familien, die Berufe sowie die Anzahl der zu liefernden Brote sowie die beauftragten städtischen Bäckereien, welche die Brote zu liefern hatten. Dieses waren die Bäckereien Johann Schriegel und Conrad Lödige für die Graubrote. Es verwundert zwar nicht, daß ein großer Teil der Empfänger Witwen, Witwer und Invaliden waren, jedoch sind auch viele andere Berufe quer durch die Steinheimer Gesellschaft gelistet: Schuhmacher, Tischler, Knechte, Maurer, Arbeiter, Heizer, Holzbildhauer, Schneider oder Maler.
Manchmal tut eben ein Blick in die unmittelbare Vergangenheit gut, um mit dankbarer Zufriedenheit das Weihnachtsfest zu feiern.