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Prof. Dr. Heribert Wiedemeier

Laudation von Albert Mues

Laudatio durch Herrn MuesHochverehrter Herr Professor Wiedemeier, hochverehrte Frau Wiedemeier,

Nicht ganz so hochverehrter Herr Bürgermeister und Stadtrat von Steinheim, eingeschlossen Spender und Veranstalter dieses Festes,

Verehrte Gäste,

Liebe Steinheimer,


wer Herr Professor Heribert Wiedemeier ist, das hat man in Steinheim irgendwann schon einmal gehört, weiß von seinem Weg in den USA, hat ihn womöglich hier auch schon mal bei einem seiner Besuche gesehen und vielleicht auch gesprochen. Aber wer bin ich, hier vor Ihnen stehend? Neun Jahre später als Heribert Wiedemeier das Licht Steinheims erblickend, bin ich zur alten Volksschule immer durchs Hollental an Wiedemeiers vorbeigelaufen, dann auf die Realschule gegangen, (wir hatten unser Klassenzimmer auf dem „Hühnerwiem", also über der ehemaligen Polizeiwache), danach nach Detmold aufs Leopoldinum II, anschließend pharmazeutische Lehre in der Apotheke in Oerlinghausen, dann Studium der katholischen Theologie zuerst in Paderborn und anschließend in München mit Abschluss. Dem folgte die Promotion in Philosophie.

Ich kann mich an das Haus Wiedemeier noch gut erinnern. In der schlechten Zeit nach 1945 hatten wir alle in Steinheim Karnickel, die gelegentlich als Sonntagsbraten herhalten mussten. Auch Wiedemeiers hatten welche. Und sicherlich ist mal von dort ein Rammler zu uns oder von uns ein Hittchen zu Wiedemeiers getragen worden. Heute nennt man das Gentausch. Das war für mich damals sehr aufregend, für Heribert Wiedemeier sicherlich nicht mehr. Er war ja aus meiner Sicht einer der Großen, immer und immerhin neun Jahre älter, und mir in den Schuljahren stets weit voraus. Und schließlich auch weg, ins Studium.

Mein Vater bemerkte dann gelegentlich: „Unsere Studiosi sind wieder da." Denn dann waren Semesterferien, und sie, diese Studiosi, bereicherten das Stadtbild. Sie flanierten durch die Straßen, „um den Bahnhof", oder standen in der Marktstraße am Bordstein und unterhielten sich vielleicht über das Auto, das dort vor 10 Minuten vorbeigefahren war. Ich kann mich noch gut daran erinnern, und auch noch heute schwingt ein wenig Respekt mit, wenn ich sie innerlich da so vor mir sehe: Rüthers Manfred, Wörmanns Wolfgang, ab und zu auch Büschers Wilfried und eben unser Heribert Wiedemeier.

Und irgendwann waren sie dann weg, ganz weg, weil die Semesterferien zu Praktika genutzt werden mussten, weil Staatsexamen oder Diplom anstand und schließlich bestanden wurde, weil Referendariat oder Assistentenzeit lief, weil sie schließlich ausgebildet waren und ins Leben traten, und weil Heribert Wiedemeier nach der Promotion 1960 zum Dr. rer. nat. in die USA ging. Und nach einer gelegentlichen Frage „Was macht eigentlich ..." traten sie mir dann kurz und blass in die eigene Gegenwart. Und unter diesem „Was macht eigentlich ..." erfuhr ich dann auch einmal, dass Heribert Wiedemeier 1971 Full Professor geworden ist, und zwar an einer Universität in Amerika, deren Namen niemand wusste, weil man ihn sofort vergass, wenn man ihn einmal hörte; er ging ja so gar nicht über die Zunge.

Und jetzt ist dieser Professor an jener Rensselaer University - so heißt sie nämlich - der Wiedemeier, auch wenn das - „Wiedemeier" - für dortige Zungen schwer auszusprechen ist. Sie hätten vielleicht lieber „Weidemann" gesagt, denn von dort kommt der Name her, also einem, der an einer Wiese oder Weide wohnte, möglicherweise eine besaß. Dann konnte man in der Namensgebung zum Weidemeier aufsteigen, also zu einem Verwalter, einem Bauern einer oder vieler Weiden. Und jetzt war's durch Vokalverschleifung nicht mehr weit zu jenem ‘Wiedemeier', das wir ja hier häufig antreffen. Also von einem „Mann an der Weide" zu einem höchsten Preisträger der NASA, wie kann so etwas zugehen?

Dazu musste er erst einmal Naturwissenschaften studiert haben, und dann nicht Physik, wie die meisten - und auch die besten unter ihnen in Deutschland bringen es derzeit damit höchstens bis ins Bundeskanzleramt - nicht Physik also, sondern Chemie. Ich habe als Kind meinen Vater mal gefragt, was ist der Unterschied zwischen Physik und Chemie, und er hat mir geantwortet: Nimm einen Sticken, wenn du den brichst, dann ist das Physik, wenn du den anzündest, dann das ist Chemie. Ich werde wohl geantwortet haben, dann ist Chemie sicherlich viel schwieriger.

Und ich will auch ab jetzt bei der Chemie bleiben und einen Steinheimer, der weit weg in den USA lebt und dort Großes geschaffen hat, erst einmal mit einem Steinheimer, der hier vor Ihnen steht, chemisch vergleichen. Er ein Halogen, reaktionsfreudig, selten frei zu finden, wenn frei, dann schon unterwegs zu neuen Bindungen. Ich, obwohl in Steinheim und im Periodensystem ihm benachbart, träge, überall anzutreffen, allgemeiner Durchschnitt, schlichter Stickstoff: 80% der Atmosphäre bestehen aus Stickstoff, in jedem Keller, auf jedem Dachboden zu finden. Er aber ein fixes Halogen ...

Fragen wir uns: Was macht ihn so reaktionsfreudig? Was tut er da so eigentlich sein ganzes Leben lang?

Sie alle haben vielleicht eine Digitalkamera, und die Jäger hier unter uns haben offiziell oder heimlich ein Infrarot-Nachtsichtgerät mit Flinte dran. Beide Geräte arbeiten mit einer licht- oder infrarotlichtempfindlichen Zelle, die Licht in Strom umwandelt, der dann auf einem Bildschirm ein sichtbares Bild erzeugen soll. Jeder Strom benötigt zwei Pole, den Minus- und den Pluspol. Auf einer licht- oder einer infrarotempfindlichen Zelle müssen also mindestens zwei Schichten aufgetragen sein, damit sie zwei Pole bilden und Spannung erzeugen können. Nun bestehen Stromleiter aber gewöhnlich aus undurchsichtigem Material, aus Metallen wie Kupfer, Aluminium, Silber, Gold. Auf einer solchen in zwei Lagen (das sind die Pole) beschichteten Photozelle muss daher die obere Schicht

1. durchsichtig sein. Diese metallische Schicht muss deshalb so dünn sein, dass noch Licht oder Infrarotlicht hindurchdringen kann auf die untere Schicht.

Stellen Sie sich dazu einmal vor, Sie hätten Blattgold vor sich, mit dem Sie eine Figur belegen wollen. Dazu brauchen Sie viel Puste, denn dieses äußerst dünne Blattgold ist leicht und dünner als Papier und lässt sich leicht an die zu vergoldenden Fläche anblasen. Obwohl dünn - immer noch undurchsichtig. Und solch ein Blattgold hat immer noch eine Dicke von gut 1000 Atomlagen Gold übereinander, ebenso viel Lagen, wie etwa drei Telefonbücher übereinander, die 2000 Seiten oder 1000 Blatt dick sind. Und nun tragen Sie von den Telefonbüchern 990 Seiten ab, so dass höchstens 10 Blatt bleiben, also von dem Blattgold wären 990 Atomlagen wegzunehmen. So - nun walzen Sie einmal Blattgold so dünn aus, dass es nicht mehr 1000 sondern gerade mal 10 Atomlagen dick ist und endlich durchsichtig wird wie eine Wasserblase ... ! Das gelingt Ihnen ganz sicher nicht. Sie kriegen nur Löcher.

Dann soll diese lichtempfindliche Schicht auch

2. äußerst glatt und poliert sein, sonst keine scharfen Bilder. So - und nun stellen Sie sich vor, Sie müssten eine Wasserblase polieren!

Und schließlich soll die Schicht auch

3. extrem sauber sein, also etwa aus reinstem Gold bestehen, anderenfalls sind die Bilder nicht exakt und sauber. So - und nun versuchen Sie mal, aus jener hochpolierten Wasserblase auch noch die letzte Schliere herauszuputzen, ohne dass sie zerplatzt!

Und das Ganze jetzt also tatsächlich in Metall wie Gold oder Silizium, äußerst dünn, wenige atomare Ebenen dick, durchsichtig. Eine solche Schicht herzustellen gelingt nur bei hohen Temperaturen über 1000°C im reinen Vakuum.

Und das Ganze in Metall wie Gold oder Silizium, und zwar so, dass diese Atome absolut gleichmäßig auf der Oberfläche verteilt sind. Nicht hier einmal vier Lagen aufeinander, dort aber acht.

Und das Ganze noch einmal in Metall wie Gold oder Silizium, aber mit der Sicherheit, dass nur Atome derselben Substanz, eben Gold oder Silizium, aufgedampft werden. Also auch das Ausgangsmaterial muss absolut rein sein.

Es geht um Metalle und Halbmetalle. Sie bilden im kalten und festen Zustand immer Kristalle, Kristalle wie ein Diamant oder ein Salz, jedoch von kleinster Größe. Bedenken Sie: Wir bewegen uns in der winzigsten Welt aller Welten, in der Welt der Atome. Die einzelnen Atome eines solchen Metalles ordnen sich zu einem geometrisch idealem Muster, solange sie nicht durch fremde Atome eines anderen Stoffes gestört werden. Und eine solche Kristallisation muss ungestört verlaufen. Dann bilden sich hauchdünne, ideale Oberflächen, und die will man haben. Schon dies war eine Aufgabe, an der sich vor Heribert Wiedemeier ein bis zwei Generationen versucht hatten. Nun aber kommt Heribert Wiedemeier auf eine Idee. So, wie eine schwebende Seifenblase in der Schwerelosigkeit eine ideale Kugel bilden muss - hier auf der Erde hängt sie unten immer etwas durch, weil sie unten schwerer ist -, so müssten ihm auch im Weltenraum ideale kristalline Metalloberflächen gelingen. Das galt es auszuprobieren - im Weltraum, wo Schwerelosigkeit herrscht. Es war also dazu noch nötig, die Versuchsanordnung so klein und so kompakt zu bauen, dass sie in einer Weltraumkapsel und nur von Astronauten bedient zu Versuchserfolgen führte. Dort oben könnten Metalle als Kristalle - denn Metalle sind im festen Aggregatzustand immer Kristalle - also Kristalle von idealem Aufbau wachsen. Heribert Wiedemeier hat theoretisch nachgewiesen, dass selbst noch die Schwerkraft für einen unregelmäßigen Kristallaufbau zuständig ist und dass eine fehlende Schwerkraft die Störungen im Atomgitter enorm vermindert. Und er hat praktisch die NASA überzeugen können, dies im Weltenraum experimentell zu beweisen. Das ist Heribert Wiedemeier gelungen und hat dann der NASA einen Vorsprung gegenüber dem Ostblock gebracht und ihm ihren höchsten Preis, die „Medal for exceptionel Scientific Achievement" im Jahr 1974.

Wir wollen uns einmal vor Augen führen, was hier geleistet worden ist. Diese Dinge - absolute Reinheit, ideale Formung, winzigste Ausdehnung - sind nicht auf der Straße zu finden, nicht in der Natur und auch nicht im Labor. Diese Dinge müssen geschaffen werden. Dazu bedarf es umfassenden Wissens, wo zu suchen und wo zu finden ist, und 'Wissen' heißt hier: durchdringende Theoriekenntnisse. Dazu bedarf es der Geduld, wenn auch beim 5. Versuch der nötige Reinheitsgrad der Stoffe noch nicht erreicht ist. Dazu bedarf es des schlechthin kritischen Umgangs mit sich selbst. Heribert Wiedemeier muss absolut ehrlich auch gegenüber sich selbst sein, muss sich sagen können, hier, an dieser Stelle war ich noch nicht exakt genug, also das ganze Experiment nochmal, auch wenn meine Mannschaft im Labor murrt, auch wenn das wieder eine Woche einschließlich Wochenende kostet. Ein solches Forscherleben verlangt eine beinharte Redlichkeit gegen sich selbst, jede kleinste Nachsicht sich selbst gegenüber, eine auch nur einmal erlaubte Unredlichkeit seinem eigenen Tun, seiner Arbeit gegenüber, und schon ist man Durchschnitt.

Eine solche Disziplin hat ihre Geschichte. Auf mitteleuropäischem Boden stehend und zurückblickend können wir durchaus ihre Wurzel aufdecken. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der auch Steinheim schwer heimgesucht hatte, gelang in der Neuordnung der Staaten in Münster im Westfälischen Frieden 1648 endlich ein Ende der Religionskriege. Im cuis regio eius religio, im 'wessen Fürst dessen Religion' bestimmte der Fürst oder der Bischof eines jeden Landes, sei es Fürstentum, sei es Erzbistum, die Religion der Untertanen. So wurde oder blieb beispielsweise Steinheim unter dem Fürstbischof von Paderborn katholisch, Lippe wurden unter seinem Grafen lutherisch-reformiert protestantisch und Hannover lutherisch protestantisch. Die Folge war ein konfessionell bestimmtes Gottesgnadentum des Herrschers mit dem sehr zu schätzenden Vorteil, dass der jeweilige Fürst und sei­ne Beamten sich auch konfessionell-religiös verpflichtet wussten. Dieser - konfessionelle - Gott stand jeweils hinter dem Regierenden und seinem Hof, streng und gebietend. Und Ihn im Rücken wuchs allmählich ein verlässliches, aufrechtes Beamtentum heran, dessen Unbestechlichkeit mit der Zeit auch ins Bürgertum wanderte, und auch dort anerkannter Wert wurde. Mit solcher Unbestechlichkeit auch sich selbst gegenüber kann man ein großer Forscher werden.

Unser benachbartes Christentum, die Orthodoxie in den russischen Ländern, in der Ukraine, ja selbst in Griechenland kennt diese konfessionell-christlich prägende Entwicklung, wie ich sie eben umrissen haben, nicht. Die die Welt und die Forschung vorwärtstreibenden Forscher wachsen dort nicht oder ganz, ganz selten. Deshalb wäre mir ein etwa aus einer Kleinstadt im Peloponnes stammender und unbestechlicher Heribert46`H Wiede"DP`H sehr schwer vorstellbar. Solche Unbestechlichkeit nicht nur im Politischen, sondern auch in der Wissenschaft - ist in jener orthodoxen Geisteswelt selten zu finden. Heribert Wiedemeier steht mit seinem Forschergeist in einer christlich-westeuropäisch konsolidierten und hier auskristallisierten Tradition. Und dazu gehört ja auch Steinheim.

Ich habe bisher Prof. Wiedemeiers Erfolg mit dem Infrarotsensor kurz vorgestellt. Eine weitere erfolgreiche Arbeit war seine Weiterentwicklung des Massenspektrometers zu einer bis dahin unerreichten Auflösung. Ich will Ihnen die Leistung dieses Gerätes an einem Beispiel kurz vorstellen. Der Bürgermeister von Steinheim kommt vom Schnatgang zurückkehrend an der Stogge vorbei und spült sein Bierglas in der Emmer aus. Eine halbe Stunde später an den Sieben Schütten nimmt Herr Kleine ein Schnapsglas Emmerwasser und kippt es in ein solches Gerät. Nach drei Minuten weiß er, aus welcher Brauerei das Bier seines Chefs stammt. Ein Massenspektrometer hat zwar andere Aufgaben, aber seine Genauigkeit sei hiermit illustriert. Und Heribert Wiedemeier geht es nicht um Biere, sondern darum, den Reinheitsgrad von Halbmetallen, wie Silizium, Gallium, Selen, Tellur festzustellen. Die Genauigkeit eines solchen Gerätes ist nahezu unvorstellbar. Atome werden gezählt und sortiert. Dank Wiedemeiers zur Präzision schlechthin entwickeltem Massenspektrometer - nebenbei sei es erwähnt - ist heutzutage ein Schwarzhandel mit Uran zum Glück fast nicht mehr möglich. Geringste Unreinheiten, die auch hochangereichertes Uran 238 noch hat, reichen aus nachzuweisen, aus welcher Mine und aus welchem Land das Metall kam.

Chemische Reinheit ist nun die Voraussetzung dafür, durch eine dann gezielte Verunreinigung winzige Einlagerungen, ja, abgezählte Fremdatome in ein ansonsten absolut reines Halbmetallkristall einlagern zu können. Denn die Reinheit einerseits und die geringe Zahl der Fremdatome macht die Qualität eines elektronischen Schalters aus.

Und dann im Hochvakuum die Dämpfe eines solcherart dotierten, weißglühenden Halbmetalls zu hauchdünnen, ja zu abzählbaren Schichten von Atomdicke gezielt kondensieren und auskristallisieren zu lassen, und dies auf ganzer Fläche gleichmäßig, das ist dann der nächste Schritt. CVD heißt das Verfahren, chemical vapor deposition. Je dünner und präziser also die Schichten, desto exakter und schneller später die Mikroprozessoren. Was vordem Megahertz war, ist heute Gigahertz. Auch hier gilt, je reiner das Trägermaterial, je weniger Fehlstellen also, desto empfindlicher sind die Prozessoren und desto kleiner können sie gebaut werden. Hier im Labor Heribert Wiedemeiers entstanden und entstehen auch die Voraussetzungen für die dann industrielle Anwendung und schließlich für industrielle Produkte, die jetzt auch hier in Steinheim in jedem Haus zu finden sind. Jeder hat die Forschungsergebnisse Wiedemeiers in der Tasche, auf seinem Schreibtisch, im Auto oder sonstwo. Kein Handy ohne die zuvor im Rensselaer Institut erstmals gezüchteten Kristalle, kein heutiger Computer ohne diese schleierdünnen, hochreinen Schichten in den Mikroprozessoren, kein Navi, keine elektronisch anspruchsvollen Geräte ohne ICs mit genau dotierten Fremdatomen. Kein Haushalt ohne etliche Nanometer Wiedemeier.

Dies Alles ist nur zu erforschen und zu gewinnen mit erbarmungsloser Genauigkeit, in einer Penetranz auf das Forschungsobjekt verpflichtet, die abstoßend wirken kann. Dennoch wussten wir auch in der Schule schon zu unterscheiden zwischen einem Streber, der allein um seines eigenen Ehrgeizes willen lernte, und einem Primus der Klasse, der aus Liebe zum Wissen, nicht sich im Blick, sondern mit reinem Interesse am Stoff, wie wir sagten, lernte, weil der ihn interessierte, weil es ihm an ihm lag. Es ist die Liebe zur Sache, zur Wissenschaft, letztlich, wenn man es so ausdrücken will, die zur Schöpfung.

Auch diese Liebe entspringt der eigenen Persönlichkeit, das ist eigene Leistung. Man sagt heute leichthin, sowas, und insbesondere die Intelligenz - das sind die Gene. Aber Intelligenz ist nicht vererbt, Intelligenz ist erarbeitet. Anfangs frühjugendlich im Spiel, dann im schulischen Ernst, schließlich in täglicher Verwirklichung. „Hat er geerbt", „sind seine Gene" - das dient nur zur eigenen Entschuldigung.

Ich will hier auch noch eine allgemeine Vorstellung vom Chemiker zurechtrücken, die da irrtümlich meint, man habe es mit Reagenzglas-Köchen zu tun, die mehr Schmutziges als Brauchbares herstellen. Ich habe einmal dem Chemiker Prof. Heinrich Nöth, dem damaligem Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, an der ich, allerdings geisteswissenschaftlich, tätig war, von einem dieser heutigen Bio-Märkte berichtet, auf dem unter anderem auch Seifen zum Verkauf angeboten wurden „ganz ohne Chemie", und habe ihn gebeten, seinen Einfluss geltend zu machen für ein besseres Ansehen der Chemie. Gelungen ist es ihm nicht. Ob es noch gelingen wird? Chemie ist nicht schmutziger als Physik oder Biologie. Dass Chemie heute sogar auch ohne Versuchsapparaturen auskommen kann und auch können muss, dazu ist Heribert Wiedemeier ein Beispiel. Chemie hat heutzutage sehr viel mit Theorie zu tun. Von Richard Feynmann stammt das Wort: „Alle theoretische Chemie ist Physik, und alle theoretischen Chemiker wissen das." Das ist brillant gesagt, aber zu knapp. Der Chemiker ist mehr, umfassender als der Physiker, wenngleich die dies nicht gerne hören. Was hier mit mathematischer Beherrschung der zu suchenden und der zu erwartenden chemischen Reaktionen, mit der auf dem Papier und im Computer zu berechnenden chemischen Verbindungen, die man haben will, an theoretischer zäher Arbeit zu leisten ist, kennt der Physiker in diesem Umfang nicht. Es ist konstruierende Mathematik im Dienste der Chemie, um Resultate zu finden, noch ehe die Versuche beginnen. Auch hier hat Heribert Wiedemeier Beachtenswertes geleistet, und er ist noch dabei, in theoretischer Untermauerung dem Meer der chemischen Möglichkeiten eine theoretische, statistisch berechenbare Struktur zu geben, in einer mathematischen Selbstdisziplin, die ihn erhaben macht über unser übliches B mal Daumen.

Ein guter Freund hat mich kürzlich aufmerksam gemacht auf ein dickes Buch aus vielen klugen Seiten, das den gut 500 Jahre alten Liber illuministarum aus Kloster Tegernsee jetzt - nämlich im Jahr 2005 - neu herausgibt und auch ausführlich kommentiert. Dieses alte Werk, über die Jahrhunderte tradiert in immer neuen Abschriften und Buchdrucken, ist eine Sammlung von gut 1300 Rezepten zur Technik der Buchillustration, des farblichen Fassens von geschnitzten oder in Stein gemeißelten Skulpturen, von dem Wie des Vergoldens von Holz, Stein, Metall, Pergament, vom Anfertigung von farbigen Leimen, der Herstellung von Farben, usw. Im Literaturverzeichnis am Ende dieses Buches ist auch ein Beitrag genannt von Hans Georg von Schnering und Heribert Wiedemeier: The high temperature structure of $-SnS and $-SnSe and the B16-to-B33 type 8-transition path. (Zeitschrift für Kristallographie 156(1-2), 143 (1981)) Prof. Schnering war ein anorganischer Chemiker und Festkörperforscher in Münster und auch ein eng befreundeter Weggenosse von Heribert Wiedemeier. Leider ist er im vorigen Jahr verstorben. Er wäre hier an dieser Stelle der Geeignete gewesen, die Meriten seines Kollegen Heribert Wiedemeier adäquat zu benennen, zu beschreiben und zu loben. Beide haben übrigens viele Arbeiten gemeinsam publiziert hat. Den Titel dieses Beitrag will ich Ihnen mal ins Deutsche zu übersetzen versuchen: „Die Hochtemperaturstruktur von $-Zinndisulfid und $-Zinnselenid beim B16 zum B33 8-Übergang." (Nachher, beim fünften Bier, erkläre ich Ihnen das dann mal.) Es geht also um Zinnsulfid und Zinnselenid, und wie man im Liber illuministarum nachlesen kann, hat man auch damals schon mit Zinnsulfid Farben hergestellt, wahrscheinlich mit Zinn(IV)Sulfid, ein Mineral von goldgelber Farbe, es wird auch als Goldimitat genommen und trug in alter Zeit den Namen aurum musivum. Dass man auch im Kloster Tegernsee auf Heribert Wiedemeier aufmerksam wurde, spricht ja nun sehr für ihn und ist ihm möglicherweise noch gar nicht bekannt. Und vielleicht hat er sich mit diesem Beitrag solche Verdienste um das Kloster Tegernsee erworben, dass man ihm dort eventuell noch einen Alterssitz im Konvent anbieten wird, da man um seine weltweiten Verdienste weiß.

Und das vor nun gut 80 Jahren beginnend und wachsend erst in der Wallstraße, dann im Hollental! Erlauben wir uns einen Blick zurück in die Stätte seines Anfangs, in der seine Eltern ihn vielleicht mit Strenge, auf dass aus dem Jungen was wird, oder vielleicht mit Milde und Güte, weil sie sahen, in dem Jungen steckt was, aufgezogen und erzogen haben, ihn mit stiller und sicher nicht in Worten ausgesprochener Liebe begleitet haben. (Die Ostwestfalen reden nicht so viel.) Wir wissen es nicht. Wir wissen allerdings, wie er nach sorgenfreier Kindheit zum Arbeitsdienst des Nationalsozialismus gedrungen wurde, wie er dann von der Wehrmacht, danach von der Kriegsgefangenschaft schlimm durchschüttelt worden ist, und wie er schließlich nach dem Kriege anfangs täglich im Güterzug nach Bad Pyrmont zum Gymnasium fuhr und dann mit dem Fahrrad zurück, dann bis Horn per Fahrrad und in der Straßenbahn nach Detmold zum Leopoldinum I, wo er 1950 das Abitur machte. Und dies gelang eben auch, weil man zuhause durchhielt.

Auf unseren Heribert Wiedemeier fällt aber auch ein Schatten. Und das spricht jeder ordentliche Steinheimer abfällig aus: „Weggezogen", nämlich von Steinheim. Das gehört sich nicht. Auch für mich nicht. Bei ihm ist es allerdings gerechtfertigt mit seiner Lebensleistung. Dass er sich an Steinheim gern erinnert und es gelegentlich wieder aufsucht (anders als damals, gut 500 Jahre zuvor, Reiner Reineccius es tun konnte), hat doch was (so sagt man heute), das zeigt, dass sein Herz auf dem rechten, ja, dem richtigen Fleck schlägt.

Und das hat man offenbar auch in Japan erspürt. Wie er einmal berichtete, war er auch ins Zuhause, in die Familie eines japanischen Kollegen eingeladen worden. Das geschieht dort gewöhnlich nicht. Dort, zuhause, herrscht geschlossenste, privateste Welt, dort hat der Japaner sein innerstes Gesicht, und das zeigt man nicht nach Außen und schon gar nicht Fremden, nicht Europäern oder gar Amerikanern. Diese Auszeichnung, in eine japanische Familie eingeladen zu werden, gewann Heribert Wiedemeier sicher durch seine Sympathie, durch seine gewinnende Offenheit, der man höchstes Vertrauen entgegenbringen darf.

Wenn ich nun das, was ich hier bisher gesagt habe, auch für einen echten Naturwissenschaftler, und das ist ja Heribert Wiedemeier, verständlich zu formulieren versuche (wer weiß, ob er meine geschraubten Sätze überhaupt versteht), dann kann ich es nur so ausdrücken: Lieber Herr Professor Wiedemeier, es ist gut, dass es den Urknall gab, denn sonst gäbe es Sie nicht.

Ich will hier am Schluss meiner Rede noch ein Geheimnis aussprechen, das ich 60 lange Jahre für mich behalten habe, das ich 60 Jahre lang niemandem anvertraut habe und das ich heute erstmals, ja wirklich erstmals ausspreche, mit rotem Kopf, auch wenn ich versuche, ihn unter den Scheffel zu stellen: Ich hatte bei Heribert Wiedemeier Nachhilfestunden. Nachhilfestunden - das gehörte sich damals nicht für einen ordentlichen Schüler. Bei mir war's aber doch nötig, sicherlich nicht in Chemie oder Physik oder in Mathematik, da war ich ganz gut, aber wahrscheinlich in Latein. Und sicher kann er, der laudandus, heute immer noch besser Latein als ich.

Jetzt aber, zu guter letzt und nur unter Steinheimern sei es gesagt, sei auch dieses Ortes Steinheim gedacht, in dem du Steinheimer, Heribert, aufgewachsen bist: Um dich deine Eltern, deine Spielkameraden, die Volksschule, die Zeit des Gymnasiums, schließlich noch die Besuche während der Semesterferien - das ganze Umfeld hat dich geprägt zu diesem Heribert Wiedemeier. Und wie sehr die Prägung gestaltend und formend einen Menschen zum Individuum macht, wir wissen es heute und nennen es schnell hingesagt „Sozialisation". Wärest du, sagen wir mal, in Wöbbel aufgewachsen - ich wähle mit Bedacht einen lippischen Nachbarort, dort war und ist Vieles anders und dort zum Beispiel wurde auch damals kein Schilf neun Tage nach Pfingsten auf die Straße gestreut -, du wärst nicht derselbe, der du jetzt bist, du wärst anders, sicherlich anders. Du wärst vielleicht ein beachtlicher Nachhilfelehrer für Chemie in Blomberg geworden. Wir können es nicht wissen. Aber das können wir behaupten: Es ist gut, dass es Steinheim gibt, denn sonst gäbe es dich nicht so, wie du bist.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine kleine Anregung aussprechen. Es wird irgendwann die Zeit kommen, und ich wünsche mir, es wird bis dahin noch viel Wasser durch die Emmer fließen, da wird hier mal jemand fragen: Wiedemeier, Wiedemeier, wer war das denn noch? Das ist doch ein Steinheimer! Dann wird es Zeit, dass sich ein vielleicht künftiger Bürgermeister mit einem vielleicht künftigen Stadtrat zusammensetzt und beschließt, dass irgendeine Zwete in Steinheim den Namen tragen soll nach dem, der heute im Mittelpunkt unserer Feier steht. Und wenn die Künftigen meinen, seine Arbeit im fernen Amerika reiche dazu immer noch nicht aus, dann aber diese seine Leistung: Er hat mir durch seine Nachhilfe den Absturz in der Schule erspart.

Respekt sage ich! 'Respekt' kommt von respicere = zurückblicken. Wir schauen heute, an diesem Ort, feierlich auf ein Forscherleben und eine Forscherleistung zurück, von dem wir alle sagen können, sagen dürfen und sagen müssen: Heribert Wiedemeier - Respekt!

Dankrede von Heribert Wiedemeier

Prof. Dr. Heribert WiedemeierSehr geehrter Herr Bürgermeister Franzke,

sehr geehrte Damen und Herrn des Auswahlgremiums,

liebe Schwester und Verwandte, liebe Steinheimer Freunde und Bekannte

Wenn einem von seiner Heimatstadt eine gut gemeinte Ehrung angetragen wird, über eine weite Entfernung, so ist das schon etwas Besonderes. Sie kann dazu dienen, ursprüngliche Bindungen an die Heimat zu erneuern und zu stärken. Sie möge auch die Bürger dieser Stadt daran erinnern, dass Heimatbeziehung nicht etwas Nebensächliches ist, sondern eine wichtige Beziehung im Leben vieler Menschen. Daher möchte ich besonders denjenigen danken, die am Zustandekommen dieser Feierstunde mitgewirkt haben: Herrn Bürgermeister Franzke, den Damen und Herren des Auswahlgremiums, und, wie schon gesagt, Herrn Dr. Mues. Mit meinem aufrichtigen Dank für diese Ehrung, die mir meine Geburts- und somit einmalige Heimat heute erweist, verbinde ich mein Bedauern, dass ich nicht hier mit Ihnen sein kann und bitte Sie um Ihr Verständnis dafür.

Als uns vor vielen Jahren - in den unteren Räumen des damaligen Rathauses - Herr Raabe in die Englische Sprach einführte, konnte ich nicht ahnen, dass ich diese Sprache einmal beruflich (und privat) sprechen würde. Frau Kluge bereitete uns unter anderen auf naturwissenschaftliche Bereiche vor. Herrn Rektor Rose werde ich immer dankbar sein für die hohen Anforderungen, die er im Lateinunterricht an uns stellte und damit lebenslange Denkgrundlagen schuf. Meinen Eltern danke ich für ihr Verständnis meiner besonderen Wünsche und beruflichen Ziele, und dass sie auf diesem langen und nicht immer leichten Weg stets mit mir standen. Es ist nur natürlich, dass ich heute auch an meine Mitschülerinnen und Schüler denke, besonders an meine Freunde Otto Dassel und Karl Neuhaus - und in diesem Zusammenhang auch an Walter Schröder - die jene gemeinsame Zeit nicht überlebt haben. Die Freunde aus den Grund- und späteren Oberschuljahren habe ich an anderer Stelle ausführlich erwähnt. Ich bin mir auch bewusst, dass andere Steinheimer in meinem und anderen Berufen wichtige Beiträge geleistet haben. Darum möchte ich mir erlauben zu betonen, dass ich diese Ehrung dankbar annehme für meine Eltern, für meine wissenschaftlichen Kollegen und für alle Bürgerinnen und Bürger, die sich darum kümmern, das Leben in dieser Stadt lebenswert zu gestalten.

Die Welt, in der wir leben, steht nicht still - das ist sicher keine neue Erkenntnis. Auch mit wichtig klingenden Namen, besonders mit fremd klingenden, kann man aus dieser alten Erkenntnis keine neue Entdeckung machen. Aber es gibt auch immer weniger stille Augenblicke, Gelegenheiten zur Besinnung und zum Nachdenken. Aus dem „sich regen und hin und wieder rasten" ist ein allgemeines ständiges „hasten" geworden. Selbst die Entspannung wird zum „Stress" wie man heute hier sagt.

Unser Land hat in den vergangenen Jahrzehnten grosse Wenden erfahren, die das Zusammenleben ganz entscheidend beeinflusst haben. Gleichzeitig und täglich und überall finden kleine Änderungen statt, wenn diese häufig auch nur lokale Wirkungen haben. Als Wissenschaftler bin ich natürlich für kritische Weiterentwicklung und Fortschritt und halte darum auch die allgemeine Erziehung und Ausbildung für eine der ganz wichtigen, gesellschaftlichen Aufgaben.

Um seine Mitarbeiter zu sauberem Arbeiten zu erziehen, erwartete Justus von Liebig, einer der berühmten deutschen Chemiker des 19. Jahrhunderts, das diese in ihrem besten Anzug, vor einigen Jahren nannte man das auch noch Sonntagsanzug, im Laboratorium erschienen - und zwar ohne weißen Kittel. Ich bin ziemlich sicher, dass meine Mitarbeiter dafür kein Verständnis gehabt hätten. Und Sie, meine verehrten Damen und Herren, wahrscheinlich auch nicht. Ohne Kittel oder Schürze in der Küche arbeiten - das geht doch nicht! Aber es muss ja nicht gleich ein dunkler Anzug sein.

Die regionalen und nationalen Änderungen haben in ihrer Gesamtheit leider nicht nur gute Einflüsse auf unser Zusammenleben. Solche Änderungen gehen hüben wie drüben vor sich und sind nicht bestimmten Bevölkerungsteilen vorbehalten. Scheinbar beteiligen sich alle daran, wenn sich auch einige dabei besonders hervortun - wenn es um die guten und weniger guten Einflüsse geht.

Die nahezu unglaublichen technischen Entwicklungen der letzten Jahre, vor allem auf dem elektronischen Gebiet, sind die treibenden Kräfte fast allen Fortschritts. Die ständige Nutzung von Handys, Computern und der Vielzahl von iPods - nicht nur um technische Aufgaben zu erledigen - bieten eine vorher nie gekannte Auswahl an Kommunikationsmöglichkeiten. Man kann zu jeder Zeit miteinander sprechen, ganz gleich wo man sich auf diesem Planeten befinden, und viele tun das auch, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung. Und dennoch leben wir in einer Zeit, die an echten Gesprächen von Angesicht zu Angesicht immer ärmer wird.

Somit kommt es zur Bildung von künstlichen, digitalen Gemeinschaften, sogenannten Social Networks, wie z. B. Facebook und MySpace, die man in Deutschland als soziales Netz bezeichnet, wodurch sie nicht glaubwürdiger werden. Denn das Wort social hat mehrere Bedeutungen und in diesem Zusammenhang gar nichts mit sozial, schon längst nichts mit sozialem Netz zu tun, dessen Maschen in meiner Heimat einst so eng waren, dass niemand hindurch fiel. Im Lande des Facebook, in dem solche Maschen deutlich weiter sind, bedeutet social Network einfach eine gesellschaftliche Verbindung oder ein Netz von Freunden. Die Netzfirma liefert die sog. Platform, die Bühne, auf der sich die Spieler nach Lust und Laune selbst darstellen können. Das Ziel ist möglichst viele Freunde zu gewinnen, ein allgemein menschliches Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Doch die Auswirkungen dieser digitalen Kommunikation auf die Privatsphäre und auf andere wichtige und notwendige Bestandteile einer Gemeinschaft sind unabsehbar. Es geht dabei immer weniger um die eigentliche Sache, um das allgemeine Anliegen, sondern immer mehr um die Selbstdarstellung der Beteiligten. Die Wirkungen sind auf jeden Fall nicht wie die einer echten Dorfgemeinschaft, von der die Senatorin Hillary Clinton einst meinte, dass es eines ganzen Dorfes bedürfe, um ein Kind zu erziehen. Vielleicht gibt es solche Dörfer heute nicht mehr? Denn inzwischen gibt es schon social networks für Kinder, in digitalen Umgebungen.

Dieses ist nur ein Beispiel für die vielen anderen missverstandenen angloamerikanischen Begriffe und Wörter, die seit Jahren in Deutschland in Umlauf sind. Anglizismen nennt man sie - ein fremd klingender Begriff, der den unkritischen Gebrauch solcher Wörter weder entschuldigt noch rechtfertigt.

Mit der Technik, durch die Medien, insbesondere die Unterhaltungsindustrie, kommen fast täglich neue Ausdrücke und Begriffe ins Land. Für die meisten gibt es, selbst bei nur geringem Nachdenken, passende deutsche Wörter. In den seltenen Fällen, in denen das nicht so ist, kann man den englischen Ausdruck übernehmen, wenn das unbedingt wichtig erscheint. Ähnlich kritisch sollte man gegenüber anderen eingeführten „Neuerungen" im Land sein.

Was einst mit open und Sale begann, hat sich inzwischen zu einer nahezu unwiderstehlichen Nachahmungssucht ausgewachsen; vom kleinen Schwarzwalddorf, in dem mich der Bussfahrer nach meinem Ticket statt Fahrschein fragte bis zur Deutschen Bahn und Lufthansa, wo man ohne gute Englischkenntnisse fast kaum noch durchkommt. Natürlich habe ich nichts gegen den sinnvollen Gebrauch einer fremden Sprache - zu seiner Zeit und bei passender Gelegenheit. Aber Teilstücke einer fremden Sprache mit der Muttersprache vermischen bedeutet nicht die andere Sprache sprechen. Diese Art der Mischung soll angeblich etwas mit Weltoffenheit zu tun haben. Ohne an Rektor Rose und seine sprachlichen Erwartungen an Korrektheit, Klarheit und Präzision zu denken bin ich der festen Meinung, dass man auch ohne open weltoffen sein kann. Die Kenntnis von Fremdsprachen ist zweifellos nützlich, vor allem im Ausland und zum besseren Verständnis unserer Nachbarn und Freunde weltweit. Aber zu Haus, in ihrem eigenen Land, sprechen auf der ganzen Welt die Menschen ihre Muttersprache und sind mit Recht stolz darauf. Das verdient unseren gebührenden Respekt. Achtung vor den Sitten und Gebräuchen anderer Länder gehört zu den Grundregeln einer aufgeklärten Gesellschaft. Das aber erfordert Respekt vor sich selbst und der eigenen Herkunft.

Als Hochschullehrer in den Vereinigten Staaten und in Deutschland liegt mir die Erziehung und Ausbildung junger Menschen besonders am Herzen. Ohne eine präzise und klare Sprache ist jegliche Erziehung von vornherein in Frage gestellt. Es geschieht immer häufiger in Amerika, dass jüngere Menschen einen einfachen logischen Satz nicht verstehen, ganz zu schweigen vom wirklichen Begreifen eines Sachverhaltes. An ihre lockere Umgangssprache gewöhnt, fällt ihnen logisches Denken und Sprechen offensichtlich immer schwerer.

Die deutsche und andere europäische Sprachen, insbesondere die romanischen, sind für ihre Logik und Präzision bekannt. Und dennoch begegne ich auch in Deutschland nicht nur jüngeren Leuten, die einem munter „Alles klar" entgegen rufen, bevor man seinen Satz überhaupt beendet hat. Sie wollen erst garnicht mit dem vollen Inhalt einer Frage vertraut gemacht werden, denn mit Wissen kommt Verantwortung, und die kann manchmal unbequem oder gar nachteilig sein.

Ohne sie hier mit weiteren, belegbaren Einzelheiten zu unterhalten gibt es - wie man auch erwarten sollte - enge Zusammenhänge zwichen Sprache und Denken und damit ebensolche Beziehungen zwischen Sprache und Erziehung. Die Mischung der Muttersprache mit Teilen einer anderen Sprache führt nicht zur besseren Verständigung untereinander. Das gemeinsame kulturelle und wirtschaftliche Zusammenleben wird in hohem Maße von unserer allgemeinen Ausbildung beeinflusst.

Die Entwicklungen im allgemeinen Erziehungsbereich verlaufen in Amerika und Deutschland sehr ähnlich. Hier wie dort nehmen die Sprachen eine Schlüsselstellung ein. Hier, in den Vereinigten Staaten, wird man sich dessen endlich immer bewusster, nicht ohne den Einfluss meiner Kollegen. In Deutschland scheint man den besonderen Einfluss der Sprache auf die Erziehung und andere Bereiche des täglichen Lebens bisher weniger ernst zu nehmen.

Sie wären sicher überrascht, wenn ich mir als Lehrer und Wissenschaftler über diese Beobachtungen hüben wie drüben keine Gedanken machen würde.

Ich danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören und dem Auswahlgremium für diese Gelegenheit, Ihnen von meinen Erfahrungen und Sorgen zu berichten.

Wenn ich dadurch zu Ihren persönlichen Gedanken und Meinungen über diese wichtigen Fragen etwas beitragen konnte, würde ich diese Feierstunde als besonders lohnenswert und gelungen betrachten.

Aus New York wünsche ich Ihnen einen guten Abend und sage Auf Wiedersehen.

Heribert Wiedemeier

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