Was in Steinheim in der »Reichskristallnacht« geschah
Am 9. November um 17:30 Uhr erlag der deutsche Botschaftssekretär Ernst von Rath in Paris seinen schweren Verletzungen, die ihm der 17-jährige jüdische Attentäter Herschel Grünspan zwei Tage zuvor zugefügt hatte. Noch in derselben Nacht und an den folgenden Tagen setzten im gesamten Deutschen Reich die von der NSDAP und der SA organisierten Ausschreitungen gegen jüdische Bürger, Kultuseinrichtungen und Synagogen ein, welche als „Vergeltung“ für diesen Mord getarnt waren.
Das Stadtarchiv Steinheim verwahrt zwei Kartons (731 und 732), welche wichtige historische Dokumente zu diesem Ereignis enthalten: Angefangen von den Funksprüchen vom 09.11.1938 und 10.11.1938 mit der Ankündigung von gesteuerten Ausschreitungen und Sanktionen gegen die jüdische Bevölkerung, von der Anordnung der Gestapo zur Verhaftung vermögender, vorzugsweise junger Juden, vom Durchführungsbericht des Steinheimer Bürgermeisters, von den Anweisungen des Reichsinnenministeriums zum Verhalten der Polizei, bis hin zu den Verträgen über die (zweite, endgültige) Sprengung der Steinheimer Synagoge und den Verkauf des Synagogengeländes an die Stadt Steinheim.
Die Steinheimer Synagoge war 1884 auf einem 571 qm großen Grundstück an der Marktstraße / Ecke Schulstraße in einem neo-romanischen Stil erbaut worden und gehörte zu den größten und schönsten Synagogen in Ostwestfalen. Der Neubau war aufgrund der wachsenden jüdischen Gemeinde notwendig geworden, die Ende des 19. Jahrhunderts etwa 120 Mitglieder umfaßte. Das Grundstück war für 7.110 Mark gekauft worden, der Bau selbst hatte 20.000 Mark gekostet, und auch die Inneneinrichtung hatte erhebliche Mittel erfordert. Allein diese finanzielle Anstrengung zeugt davon, dass der Großteil der Steinheimer Juden recht wohlhabend gewesen war. Ein kostbares Dokument ist auch die im Stadtarchiv wieder aufgefundene Bauzeichnung der neuen Synagoge.
Bereits vor der Pogromnacht war es zu mehreren Einbrüchen in die zur damaligen Zeit bereits nicht mehr benutzte Synagoge gekommen. Dabei wurden Fenster zerschlagen, die Inneneinrichtung verwüstet und der Toraschrein beschmutzt. Am Morgen des 10. November drangen SA-Männer – einige davon in zivil – in die Synagoge ein und plünderten die Einrichtungsgegenstände. Die Holzteile wurden auf Pferdewagen verladen und später zu Kronleuchtern verarbeitet. Dann wurden stundenlang Löcher in die Pfeiler des Innenraumes gebohrt und mit Dynamit gefüllt, und am späten Nachmittag wurde gezündet. Das Gebäude wurde dabei zwar schwer erschüttert, blieb aber insgesamt stehen. Da diese Sprengung nicht erfolgreich gewesen war, schloß die Stadt am 12.12.1938 einen Vertrag mit der 3. Kompanie der Pioniereinheit 31 aus Höxter, welche die Sprengarbeiten zum Einsturz der Synagogenkuppel übernehmen sollte. Die „Steinheimer Zeitung“ berichtete am 14.12.1938: „Am gestrigen Tage sprengten Pioniere aus Höxter die Kuppel der hiesigen Synagoge. Zu diesem seltenen Schauspiel hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden. Leider wurden durch die Sprengung auch einige Nachbarhäuser in Mitleidenschaft gezogen“. Danach wurde die Synagoge Stein für Stein abgetragen, und eine handschriftliche Notiz auf eine Anfrage des Reichsinnenministeriums vom September 1939 führt aus: „Die hiesige Synagoge ist restlos abgebrochen. Ruinen sind seit mehreren Monaten nicht mehr vorhanden. Der Platz ist vollkommen eingeebnet und dient als Parkplatz“.
Kurz nach der endgültigen Sprengung erreichten Dutzende, handschriftlich verfaßte Forderungen von Steinheimern Bürgern die Stadt, welche Schadensersatz für die bei der Sprengung erlittenen Schäden forderten. Da die jüdische Kultusgemeinde nicht in der Lage war, für die Beseitigung der Trümmer sowie für die an den umliegenden Geschäften und Häusern entstandenen Schäden aufzukommen, verkaufte sie das Gelände an die Stadt. Im Kaufvertrag vom 22.12.1938 verpflichtete sich diese im Gegenzug dazu, die Trümmer zu beseitigen und die anstehenden Forderungen der Steinheimer Bürger und Geschäftsleute zu begleichen. Den Auftrag zur Beseitigung der Trümmer erhielt die Firma Rüsenberg, welche der Stadt das billigste Angebot bei der Ausschreibung unterbreitet hatte. Aber nicht nur die Zerstörung ihrer Gotteshäuser war für die jüdischen Gemeinden eine Katastrophe, sondern auch die systematische Entwendung ihres Schrift- und Archivgutes, welches später zentral bei der Geheimen Staatspoliziei in Berlin gesammelt wurde.
Aber nicht alle Bürger waren einverstanden gewesen mit den Ausschreitungen und Zerstörungen dieser Tage. Die Stimmung in der Bevölkerung wird eindringlich durch einen Brief wiedergegeben, den der Höxteraner Landrat Dr. Reschke am 20.11.1938 an den Regierungspräsidenten in Minden schrieb: „Man hört auch Kreisen alter Pg erhebliche Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit dieser Aktion, die in ihrer Ausführung im Wesentlichen von Persönlichkeiten getragen war, die nicht zu den besten Elementen der Partei gehören. Den besonnenen Teil der Bevölkerung hat es ernst und besorgt gestimmt, dass es möglich gewesen ist, scheinbar unter dem Schutz, wenn nicht sogar der Führung der Partei, an einzelnen Orten Handlungen zutage treten zu lassen, die der Bevölkerung bisher aus Schilderungen in anarchistischen Ländern bekannt waren. Sie sorgt sich darum was geschieht, wenn eine solche Aktion gegen andere politische Gegner losgehen würde“.
Und eine besonders bewegende und nachdenkliche Aussage eines Steinheimer Bürgers angesichts der Synagogenzerstörung ist in einem Bericht des Bürgermeisters „Betrifft Aktion gegen Juden am 10.11.1938“ überliefert: „Was man jetzt mit den Synagogen gemacht hat, kann in vier Wochen den katholischen Kirchen widerfahren“ und der Bürgermeister fährt fort: „Die Person, die diese Äußerungen gemacht haben soll, konnte bisher trotz Ermittlungen nicht festgestellt werden.“